Stadtführung – Teil 1 –

Ein Gastbeitrag von B. Kramer vom Recherchekollektiv Dokumentieren Gegen Rechts

Die antifaschistische Führung durch die mittelhessische Stadt Gießen beginnt auf dem „Elefantenklo“ oder E-Klo, das wegen seiner überdimensionalen, fast plumpskloartigen Erscheinung mit drei Öffnungen, seinen Namen erhalten hat.

Auf dem E-Klo stehend kann mensch die drei Öffnungen erkennen und kann direkt auf das Gebäude mit dem Schuhhaus Darré schauen.

Hier ein Blick auf die Einkaufsmeile der Stadt, der Seltersweg.

In den 1930iger Jahren sah es hier noch so aus
Anmerkung: der orangefarbene Pfeil zeigt direkt auf das Schuhhaus Darré

Ein Blick auf den Seltersweg in den 30er Jahren.

[1]

Am Selterstor sah es nach Kriegsende so aus:

[2]

Vor dem Karstadt stehend blicken wir direkt auf das Schuhhaus Darré, das in Kürze schließt.

Nach der „Arisierung“ sah das Schuhhaus Darré so aus:

[3]

Bis 1933 gehörte das Schuhhaus zur jüdischen Schuhhausfiliale Bottina. Die Familie floh in die USA und Emmy und Edmund Darré gelangten in den Besitz durch „Arisierung“.

Die sogenannte Arisierung war ein zentraler Bestandteil des nationalsozialistischen Antisemitismus. Sie bezeichnet den systematischen, gesetzlich abgesicherten Entzug jüdischen Eigentums – von Häusern und Geschäften bis hin zu ganzen Firmen – der mitten in deutschen Städten, in Nachbarschaften und Familien vollzogen wurde. Was offiziell oft als »Übernahme« bezeichnet wurde, war in Wahrheit Zwang und Entrechtung.“ [4]

Interessanterweise sah der „Kauf“vertrag zwischen Bottina und Darreé eine Verkaufssumme von 50.000 Reichsmark vor, die in monatlichen Restzahlungen in einer verzinsten Ratenzahlung –abhängig vom Umsatz – zu entrichten war. [5]

Doch da die Familie in die USA floh, mussten sie eine sog. Reichsfluchtsteuer entrichten. „Diese war 1933 zum Zwecke der Ausplünderung der Juden und politisch Verfolgter instrumentalisiert worden.“ [6]

Das bedeutete: „Die Reichsfluchtsteuer wurde bei Aufgabe des inländischen Wohnsitzes fällig, sofern das Vermögen 200.000 Reichsmark überstieg oder das Jahreseinkommen mehr als 20.000 Reichsmark betrug. Der Steuersatz wurde auf 25 Prozent des Vermögens des Steuerpflichtigen festgesetzt.“ [7]

Wikipedia dazu: „Vor 1933 war d Steueraufkommen aus d Reichsfluchtsteuer wenig bedeutsam gewesen; es betrug im zweiten Rechnungsjahr nur knapp 1 Million Reichsmark. Mit Beginn der durch Terror eingeleiteten Fluchtbewegung wurde die Reichsfluchtsteuer zu einem bedeutenden Teil im Reichshaushalt. Insgesamt zog der NS-Staat durch die Fluchtsteuer 941 Millionen Reichsmark ein. Nach Schätzungen stammt diese Summe zu über 90 % von rassenideologisch verfolgten Emigranten.“ [8]

Zurück nach Gießen mit Blick auf das Schuhhaus Darré, während hinter uns auf einem Blumenkübel zum Boykott israelischer Produkte aufgerufen wird.

In diesem Zusammenhang erinnern wir an einen Artikel in der Oberhessischen Tageszeitung am 23.08.1933. Er trug den Titel: „Kauft nicht bei Juden.“ [9]

Zur Neueröffnung veröffentlichte die Oberhessische Tageszeitung vom 17.10.1933 folgende Anzeige des Schuhhaus Darreé

[10]

Zum Zeitpunkt der Anzeige lebten gerade noch 850 Jüdinnen*Juden in Gießen. Bei der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden habe Gießen ein hohes Tempo vorgelegt, besonders im Schuhhandel, so Peer Morton Pröve in seiner an der J-L-U entstandenen Bachelor-Arbeit.

Mehr dazu hier

Und weiter: „Von den drei Groß- und 14 Kleinschuhhandlungen in der Stadt – alle in oder um den Seltersweg oder in der Bahnhofstraße gelegen – waren ursprünglich sieben in »jüdischem« Besitz. Schon im Dezember 1932 warfen SA-Leute Schaufenster ein, Massenverhaftungen sorgten für Unruhe, es gab Boykottaufrufe gegen von Juden geführte Geschäfte. Wo man seine Schuhe kaufte, wurde zur »politischen« Entscheidung, erinnerte Pröve, wobei er Wert darauf legt, dass diese Verdrängung der jüdischen Unternehmer gängige »soziale Praxis« gewesen sei.Nur zwei Schuhgeschäfte seien liquidiert worden, alle anderen hätten auffallend schnell und »in vergleichbar hohem Maße frei von der Einmischung nationalsozialistischer Behörden und Vorschriften« neue Eigentümer bekommen.“ (a.a.O.)

Edmund Darrés Entnazifizierungsverfahren ergab später, dass er in einem „wahren Wirtschaftskrimi und Nazi-Machtkampf verwickelt“ war. Nachzulesen entweder als Screenshot oder hier

[11]

Edmund Darré, der seit 1925 als Geschäftsführer im Schuhhaus Bottina gearbeitet hatte, [12] veröffentlichte am 19.9.1933 und am 20.9.1933 folgende Erklärungen:

Erklärung! In Verbindung mit einem stillen Teilhaber (Christlicher Herr aus Gießen) habe ich das Schuhhaus Bottina in Gießen käuflich erworben. Zweifler an dem ordnungsgemäßen Kauf des Geschäftes wollen sich an Herrn Rechtsanwalt L. Engisch wenden, welcher von mir befugt ist, erschöpfende Auskunft zu erteilen. Herr Rechtsanwalt L. Engisch hat die Verträge abgeschlossen. Die bisherige Firma Schuhhaus Bottina firmiert künftig …

[13]

Nächste Erklärung: „Von verschiedenen interessierten Seiten werden immernoch unwahre Gerüchte über mein Geschäft verbreitet.
Allen Anfeindungen zum Trotz erkläre ich nochmals, daß mein Geschäft rein deutsch ist; daß sowohl mein stiller Teilhaber, als auch ich rein arischer Abstammung sind und daß mit keinem jüdischen Kapital gearbeitet wird.
Ferner erkläre ich, daß sowohl die Leitung als auch das gesamte Personal rein arischer Abstammung sind. Ich werde zukünftig gegen Jedermann klagbar vorgehen, welcher ein anderslautendes Gerücht verbreitet
.“

[14]

Doch Fakt ist: unter Beteiligung von Edmund Darré verschwand am 1.8.1936 das letzte „jüdische“ Schuhhaus (Schuhhaus Süss, Marktstr. 9/11) [15]

Unter Beteiligung von Edmund Darré konnte die Familie Krämer erst drei Jahre nach den ersten Versuchen das Schuhhaus Süss „verkaufen“. Dazu setzte Darré den Strohmann Karl Baier ein.

So kam es, dass „die Familie Krämer für das mit 35 000 Reichsmark eingeschätzte Geschäft 28 000 Reichsmark vom »arischen« Käufer“ erhielt „und davon insgesamt 26 000 als »Judenvermögensabgabe« und »Reichsfluchtsteuer« an die Reichsvermögensverwaltung bezahlen“ musste. [16]

Ende Teil 1. Hingewiesen werden soll in diesem Zusammenhang an die Bachelorarbeit von Peer Pröve über „Denunziation, Verdrängung, „Arisierung“ – Der Gießener Schuhhandel im Nationalsozialismus“, 2022, Universität Gießen.

Quellen:

[1] „Gießen – ein Kriegsende“ Erinnerte Zeitgeschichte der letzten sechs Kriegsmonate Herausgegeben von Richard Humphrey, Rol Hauser, Meike Kross und Miriam Pagenkemper, 1995, Gießener Allgemeine, S. 30

[2] „Gießen – ein Kriegsende“ Erinnerte Zeitgeschichte der letzten sechs Kriegsmonate Herausgegeben von Richard Humphrey, Rol Hauser, Meike Kross und Miriam Pagenkemper, 1995, Gießener Allgemeine, S. 30

[3] https://www.facebook.com/groups/2161802224079721/posts/3642207976039131/

[4] „Gießen – ein Kriegsende“ Erinnerte Zeitgeschichte der letzten sechs Kriegsmonate Herausgegeben von Richard Humphrey, Rol Hauser, Meike Kross und Miriam Pagenkemper, 1995, Gießener Allgemeine

[5] https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/vortrag-zum-thema-arisierung-in-giessen-93978504.html

[6] https://www.darre.de/media/pdf/05/7b/46/Vergangenheit-II.pdf?srsltid=AfmBOoozew0OOqn99Eu6LKrJLLRjlh8CIj4ClpUqwjpvwx6Y735WgrWa

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsfluchtsteuer

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsfluchtsteuer

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsfluchtsteuer

[10] Bruno W. Reimann/Angelika Albach/Heiko Boumann/Ralf Fieberg/Susanne Meinl „Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Gießener Region“, 1990, S. 381

[11] Bruno W. Reimann/Angelika Albach/Heiko Boumann/Ralf Fieberg/Susanne Meinl „Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Gießener Region“, 1990, S. 413

[12] https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/komplette-existenzen-vernichtet-91764652.html

[13] https://www.darre.de/media/pdf/05/7b/46/Vergangenheit-II.pdf?srsltid=AfmBOoozew0OOqn99Eu6LKrJLLRjlh8CIj4ClpUqwjpvwx6Y735WgrWa

[14] Bruno W. Reimann/Angelika Albach/Heiko Boumann/Ralf Fieberg/Susanne Meinl „Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Gießener Region“, 1990, S. 412

[15] Bruno W. Reimann/Angelika Albach/Heiko Boumann/Ralf Fieberg/Susanne Meinl „Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Gießener Region“, 1990, S. 412

[16] https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/verblendung-profitgier-oder-beides-91764300.html

[17] https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/juedische-schuhhaendler-verdraengt-und-beraubt-91954192.html