Eine Stadtführung – Teil 4 –

Ein Gastbeitrag von B. Kramer vom Recherchekollektiv Dokumentieren Gegen Rechts

92 Jahre nach der Machtergreifung der Nazis hat Deutschland einen Bundeskanzler, der laut darüber nachdenkt, welche Menschen in den Innenstädten sichtbar sein sollen und welche nicht. Stichwort: Stadtbild

Menschen unsichtbar zu machen, hat Geschichte. So wie in Gießen. Hier wurden in der Gießener Weststadt, einer Siedlung mit Namen „Gummiinsel“, in den 1930iger Jahren zweistöckige Backsteinhäuschen ohne Keller erbaut.

[1]

Errichtet wurden sie als Notquartiere vor allem für Familien jenischer Gewerbetreibender – regionale Fremdbezeichnung „Mäckeser“ –, Schausteller, Altwarenhändler und Nachfahren regionaler Sintifamilien.“ [2]

Das Viertel war vom Rest der Stadt isoliert, der Ruf wegen der hohen Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsrate ramponiert.“ [3]

In diesem Jahr, am 16. März 2025, jährte sich zum 82. Mal die Deportation von Gießener Sinti und Jenischen nach Auschwitz-Birkenau. Im Rahmen einer Gedenkstunde im Rathaus in 2024 betonte der Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher

Bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten seien Sinti, Roma und Jenische diskriminiert worden.
Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hätten sie sich unter dem Vorwand der präventiven Kriminalitätsbekämpfung registrieren und überwachen lassen müssen, führte Becher aus. Tatsächlich habe diese polizeiliche Erfassung jedoch nur zur Kriminalisierung der gesamten Bevölkerungsgruppe geführt, was schließlich die Isolation und Segregation dieser Menschen zur Folge hatte. »Unter den Nationalsozialisten wurden sie dann zu Opfern systematischer Verfolgung, Gewalt und Ermordung.«
“ [4]

15 Angehörige der Gießener Sinti und Jenischen wurden am 16. März nach Auschwitz-Birkenau deportiert. 10 davon waren Kinder, das jüngste gerade ein Jahr alt.“ [5]

Neben der Gummiinsel, benannt nach dem früher größten lokalen Arbeitgeber, der Gummifabrik Poppe, gibt es noch die Stadtteile Margaretenhütte und den Eulenkopf.

Die Bezeichnung „Gummi-Insel“ „beinhaltet eine abschätzende Haltung und seine Anwendung macht deutlich, daß die dort Wohnenden als Angehörige eines neuen sozialen Ghettos betrachtet wurden“ schrieb Hans-Günter Lerch in seinem Buch „Tschü Lowi … Das Manische in Gießen“. [6]

Auf das Soziolekt wird im Nachfolgenden noch eingegangen werden.

Die Margaretenhütte um 1928. [7] Zu sehen sind Notquartiere im Fachwerkstil, die die 1927 aufgestellten und ausgedienten Eisenbahnwaggons für Wohungslose ergänzten.

Und der Eulenkopf, der in den 1950iger Jahren aus Behelfsunterkünften für Flüchtlinge und Obdachlose entstand. [8]

[9]

Gummiinsel, Margaretenhütte und Eulenkopf waren Stadtteile mit begrenzter Anbindung an die bestehende städtische Bebauung und damit waren sie in gewisser Weise isoliert. [10]

Hans-Günter Lerch beschreibt am Beispiel der Wohnkolonie Margaretenhütte, dass diese zu einem Sammelpunkt für die sozial Benachteiligten wurde. Niemand habe sich die Mühe gemacht, die gesellschaftlichen Ursachen ihres Verhaltens aufzudecken und dafür Verständnis aufzubringen. [11]

Und tatsächlich war die Isolierung oder Ausgrenzung beabsichtigt. Lerch zitiert einen gewissen Schol mit folgenden Worten: „Sozial und staatspolitisch gesehen sind die Gießener A*ozialen unbrauchbar für ein geordnetes Gemeinschaftswesen, sie kennen nur Rechte, aber keine Pflichten. Diese Elemente sind geeignet, Zersetzungsarbeit zu leisten …“ [12]

Bezogen auf die Margaretenhütte handelte es sich laut Schol dabei neben „A*ozialen“ hauptsächlich um „Z-Wort“ (statt Roma und Sinti) und weiter „Schol wußte anscheinend nicht, dass die Z-Wort in Wirklichkeit jenische Familien waren, die bekanntlich nach Z-art leben und reisen.“ [13]

So konnte er schreiben: Neben ihren festen Wohnungen bewohnen die Z-Wort ihre Wohnwagen mit, die auf dem Koloniegelände aufgestellt sind. Dazwischen sind dürftige Blech- und Bretterhütten errichtet, die zur Unterkunft für die Pferde dienen.“ [14]

Hier, an den Rändern der Stadt Gießen, wurde das Soziolekt, das Lerch als „vorgefundene Geheimsprache bezeichnet,“ die dem Jenischen zuzuordnen sei, Manisch gesprochen.

Die Jenische Sprache setzt sich zusammen aus: Sprachen der Roma und Sinti, der deutschen Sprache, dem Jiddischen und der Rest ist anderssprachlich und ungeklärt.

Wer kennt nicht den Begriffe „Kaschemme“, „malochen“, „Katschemme“, „pofen“, „pennen“ oder „tinnef“.

2025 wurde das Gießener Manisch als immaterielles Kulturerbe in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbe aufgenommen.

Manisch gehört zu den Rotwelsch-Dialekten, die in vielen Regionen Deutschlands gesprochen werden. Ein Antrag, sie als Träger kultureller Ausdrucksformen anzuerkennen, ist von der Deutschen UNESCO-Kommission angenommen worden.“ [15]

[16]

Wenn „wir“ uns u.a. an die Siedlungen am Rande der Stadt Gießen während des Nationalsozialismus erinnern, dann auch daran: „Mit der Machtübernahme der Nationalsozialist:innen stieg die Vorstellung der “Rassenhygiene” zur Staatsideologie auf. Armut, Wohnungslosigkeit, unangepasster Lebensstil, Schulversagen und Kriminalität waren demnach “rassenbiologische” Probleme und sollten mit den entsprechenden Mitteln – KZ-Haft und Zwangssterilisierungen – bekämpft werden.“ [17]

Wenn „wir“ uns erinnern, dann dürfen wir aktuell nicht ignorieren, dass die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus Hessen „ihren zweiten Jahresbericht mit 159 dokumentierten antiziganistischen Vorfällen für Hessen im Jahr 2024“ veröffentlicht hat.

Es wurden 159 Vorfälle von Antiziganismus für das Jahr 2024 in Hessen dokumentiert.
Im Vergleich zum Jahr 2023 ist das eine Steigerung von rund 40%
.“

[18]

Und beim Erinnern vergessen Sie nie, mit der Unsichtbarmachung fängt es an!!!

Latsche Diwes oder bis bald in Gießen, denn hier findet im Zeitraum 29. + 30.11.2025 die Neugründung einer völkisch-patriotischen Jugendorganisation der AfD statt!

Alerta!!!

Quellenangaben:

[1] https://landbote.info/das-manische/

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Gummiinsel

[3] https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/herz-weststadt-12268970.html

[4] https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/sinti-und-jenischen-gedacht-92897156.html

[5] A.a.O.

[6] „Tschü lowi … Das Manische in Gießen“, Hans-Günter Lerch,  2005, Anabas-Verlag, S. 95

[7] https://landbote.info/das-manische/

[8] https://www.mittelhessen.de/lokales/kreis-giessen/giessen/sozialraeumliche-ausgrenzung-wird-in-giessen-aufgearbeitet-1667827

[9] https://landbote.info/das-manische/

[10] https://www.mittelhessen.de/lokales/kreis-giessen/giessen/sozialraeumliche-ausgrenzung-wird-in-giessen-aufgearbeitet-1667827

[11] „Tschü lowi … Das Manische in Gießen“, Hans-Günter Lerch,  2005, Anabas-Verlag, S. 95

[12] A.a.O. S. 86

[13] A.a.O. S. 85

[14] A.a.O. S. 85

[15] https://wissenschaft.hessen.de/presse/einstige-geheimsprache-giessener-manisch-ist-immaterielles-kulturerbe

[16] https://wissenschaft.hessen.de/presse/einstige-geheimsprache-giessener-manisch-ist-immaterielles-kulturerbe

[17] https://zumfeindgemacht.de/jenische/

[18] https://hessen.antiziganismus-melden.de/2025/06/05/mia-hessen-veroeffentlicht-den-zweiten-jahresbericht-zu-antiziganistischen-vorfaellen-in-hessen-die-zahl-der-vorfaelle-ist-im-vergleich-zum-vorjahr-um-40-gestiegen/