Stadtführung – Teil 2 –

Ein Gastbeitrag von B. Kramer vom Recherchekollektiv Dokumentieren Gegen Rechts.

Wir stehen vor dem Trinkaus-Haus, einem Jugendstil-Haus an der Ecke Seltersweg/Wolkengasse.

Gustav Trinkaus kaufte 1905 die alte Gastronomie im Seltersweg 59, die er dann abreißen ließ. Vor dem Abriss sah das Gebäude so aus. [1]

Im Sommer 1927 wurde die Lokalität an Franz Soldan verpachtet. Fotos dieser Lokalität „Zum schwarzen Walfisch“ konnten wir leider keine finden. Franz Soldan (1873 – 1937) wurde 1928 Mitglied in der NSDAP von der er 1933 zum Stadtrat und zum Sturmführer der SA ernannt wurde.

Seine Ehefrau Mina war ebenfalls Parteimitglied und wurde als „wahre Mutter der Gießener SA“ bezeichnet. [2] Sein Sohn Hugo (1901 – 1927) war während seines Studiums in Gießen Mitglied der völkischen und schlagenden Verbindung Agronomia und ein überzeugter Hitleranhänger sowie Parteimitglied seit 1925. [3]

Franz Soldan machte aus dem „Zum schwarzen Walfisch“ das 1. NS-Parteilokal. [4] Dieses auch Soldan genannt „war Ausgangs- und Endpunkt zahlreicher NS-Aktivitäten und Aufmärsche, Parteiversammlungen und Auseinandersetzungen mit den politischen Gegnern.“ [5]

Sein Lokal war auch Treffpunkt oder „Verkehrslokal“ der studentischen Korporationen und Burschenschaften.

Der Völkische Beobachter veröffentlichte am 16.7.1928 eine Anzeige mit dem Text: „Nur hier verkehrt Ausschneiden? der Nationalsozialist! Aufheben!“ [6]

Sein „Parteilokal“ … „war bis zur Machtergreifung das einzige Lokal, worin sich ein SA-Mann in Uniform sehen lassen durfte.“ [7]

Die Gießener Allgemeine Zeitung berichtete am 10.0.2024 folgendes:

Franz Soldan eröffnete in den Räumen die Gaststätte „Zum schwarzen Walfisch“, die im Dritten Reich zum Hauptparteilokal der NSDAP und Treffpunkt der SA in Gießen wurde. Bekannt ist darüber zum Beispiel, dass SA und SS eine Woche nach der Reichstagswahl am 13. März 1933 Nazigegnern, Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschaftern und Juden durch die Innenstadt bis „Zum schwarzen Walfisch“ gezwungen hatten. Dort mussten sie durch ein Spalier an Nazis gehen, wurden mit Tritten und Schlägen traktiert und anschließend in dem Gasthaus festgehalten und weiter misshandelt.“ [8]

Der Gießener Schriftsteller Georg Edward beschrieb diesen Vorfall so: „Unerhörter Terrorismus der Sturmabteilung und der Schutzstaffel der Nationalsozialisten, die jetzt Polizeigewalt haben, was bedeutet, dass sie tun können, was ihnen beliebt. Um 10 Uhr ging ich in die Stadt und fand alle jüdischen Warenhäuser auf Befehl dieser Burschen geschlossen, und es wurde erzählt, sie hätten am frühen Morgen die Juden aus den Betten geholt, sie zu ihrer Kneipe auf dem Seltersweg geschleppt, sie geschlagen und misshandelt und schliesslich gezwungen, einen Schein zu unterzeichnen, wonach sie erklärten, sie würden nichts gegen die neue deutsche Regierung unternehmen.

Auf dem Seltersweg war ich Zeuge eines empörenden Schauspiels: Privatdozent Dr. Georg Meyer von zwei Dutzend vulgär aussehenden, mit Flinten bewaffneten Burschen von der nationalsozialistischen Sturmstaffel eskortiert. Die Leute auf der Strasse schienen in der Mehrzahl mit dieser Brutalität einverstanden zu sein, nur wenige zeigten Überraschung oder Abscheu auf ihren Gesichtern. Als ich meine Empörung offen aussprach, wurde mir sofort mit Verhaftung gedroht. Ich ging weiter in der Hoffnung, einen Polizisten aufzutreiben, aber keiner liess sich blicken.“ [9]

Wenn „wir“ uns erinnern, dann nicht nur an die Untaten und die zerstörerische Brutalität der Nazis, sondern auch an die Ignoranz von Teilen der Bevölkerung, die mit der Brutalität einverstanden waren oder es es zu sein schienen.

Wenn „wir“ uns erinnern, dann MÜSSEN „wir“ unsere Empathie und unsere Solidarität bewahren für Verfolgte und Marginalisierte damals und HEUTE!!!!

Im vergangenen Jahr sind in Hessen 121 Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte verzeichnet worden. 120 davon seien als politisch rechts motivierte Taten eingeordnet worden, teilte das Innenministerium auf eine Anfrage der oppositionellen Grünen-Landtagsfraktion mit. aut Aufstellung wurde der erste derartige Fall am 9. Januar 2024 in Gudensberg (Schwalm-Eder-Kreis) registriert und der letzte am 26. Dezember in Gießen.“ [10]

Das bedeutet „an jedem dritten Tag ein Angriff auf Geflüchtete“. [11]

Gleichzeitig ist die Zahl queerfeindlich motivierter Straftaten deutlich angestiegen. „Im vergangenen Jahr wurden in Hessen 135 Taten registriert, 52 mehr als im Vorjahr, heißt es in einer Antwort des hessischen Innenministeriums auf eine Anfrage dreier Grünen-Abgeordneter des Landtags in Wiesbaden. Das ist ein Anstieg um knapp 63 Prozent. Dabei handelt es sich um Fälle von Hasskriminalität.“ [12]

Ebenfalls zugenommen haben antisemitisch motivierte An- und Übergriffe auf Jüdinnen*Juden. 2024 sind diese gegenüber dem Vorjahr um rund 75 Prozent angestiegen. „Demnach wurden im vergangenen Jahr 926 judenfeindliche Vorfälle gemeldet.“ [13]

Stark angestiegen sind auch antiziganistische Vorfälle, „insbesondere Beleidigungen und Mobbing, (…)“. „Die Zahl der dokumentierten antiziganistischen Vorfälle in Hessen stieg von 113 im Jahr 2023 auf 159 im Jahr 2024, was einer Zunahme von rund 40 % entspricht.“ [14]

Desweiteren ist in Hessen eine „deutliche Zunahme von Angriffen auf Obdachlose zu verzeichnen. Die Zahlen sind zwischen 2015 (53 Fälle) und 2024 (116 Fälle) sprunghaft angestiegen.“ [15]

Am 26.10.2025 schrieb die TAZ über Forschende, die erstmals Fotos einer Deportation der NS-Zeit aus Hamburg identifiziert haben. „Sie beweisen einmal mehr, dass dies vor aller Augen geschah.“

Deshalb raus auf die Straßen, wenn sich die AfD in Gießen in den Hessenhallen am 29. und 30. November 2025 trifft, um eine Höcke-Jugend zu gründen!

Quellenangaben:

[1] https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/im-seltersweg-ehemaliges-traditionslokal-trinkhaus-der-trinkaus-93231044.html

[2] „Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Gießener Region“ Bruno W. Reimann/Angelika Albach/Heiko Boumann/Ralf Fieberg/Susanne Meinl, Gießen 1990, S. 203

[3] A.a.O. S. 207

[4] A.a.O. S. 200

[5] A.a.O. S. 200

[6] A.a.O. S. 202

[7] A.a.O. S. 203

[8] https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/im-seltersweg-ehemaliges-traditionslokal-trinkhaus-der-trinkaus-93231044.html

[9] https://www.giessen.de/Leben/Bildung/Stadtarchiv/Historische-Streifz%C3%BCge/-Drittes-Reich-und-Weltkrieg-in-der-Provinzstadt-Zeitkritische-Betrachtungen-aus-den-Tageb%C3%BCchern-des-Gie%C3%9Fener-Schriftstellers-Georg-Edward.php?object=tx,2874.5&ModID=7&FID=2874.58118.1&NavID=2874.441&La=1

[10] https://www.zeit.de/news/2025-03/20/121-angriffe-auf-fluechtlingsheime-und-fluechtlinge

[11] https://www.migazin.de/2025/03/20/hessen-an-tag-angriff-gefluechtete/

[12] https://www.zeit.de/news/2025-08/21/deutlich-mehr-queerfeindliche-straftaten-in-hessen

[13] https://www.hessenschau.de/gesellschaft/antisemitismus-ist-quasi-ueberall-zahl-der-vorfaelle-in-hessen-nimmt-deutlich-zu-v1,jahresbericht-antisemitismus-100.html

[14] https://hessen.antiziganismus-melden.de/aktuelles/

[15] https://www.hessenschau.de/panorama/gewalt-gegen-obdachlose-steigt—hohe-dunkelziffer-vermutet-v1,angriffe-obdachlose-102.html